„Mann, war das eklig heute!“ Noch immer regnet es, wie bereits den ganzen Tag. Und den Tag zuvor. Es schüttet wie aus Kübeln, das Thermometer zeigt dabei lausige 10 Grad an. Alles ist grau in grau. Es ist kurz nach 20 Uhr, Achim und ich sitzen im Bus. Es ist Tag 12 der Europa-Etappe. Knapp 580 Kilometer habe ich bereits in den Beinen. Wir sind am frühen Abend in Nový Rychnov angekommen, einer 1.000-Seelen-Gemeinde, 120 Kilometer südöstlich von Prag. Abseits des Dorfes haben wir einen ruhigen Stellplatz an einem Feldweg gefunden. Die Wege haben sich durch den vielen Regen in Schlammpisten verwandelt. Meine Laufschuhe sind von einer dunklen matschigen Pampe umzogen, das ursprünglich tiefe Blau der Schuhe ist einem undefinierbaren Braunton gewichen.
Achim und ich sitzen im Bus, der Regen prasselt ununterbrochen auf das Autodach, die Fensterscheiben sind beschlagen, die Standheizung läuft auf Hochtouren. Trotzdem ist mir kalt. Ich wickle mich in meinen dicken warmen Schlafsack ein, meine Laufklamotten habe ich zum Trocknen im Auto verteilt aufgehängt. Die Nässe ist allgegenwärtig und zehrt an meinen Nerven. Die Stimmung ist am Gefrierpunkt angelangt, meine Gefühlslage im Keller. Das Wetter trägt zweifellos seinen Teil dazu bei. Aber nicht nur. Die letzten Tage hatte ich extrem wenige Begegnungen mit Menschen. Vor allem junge Menschen waren kaum auszumachen. Und gerade die Gespräche mit diesen sind der Schwerpunkt des Projekts. Die Situation schlägt mir auf den Magen. Nur widerwillig schiebe ich mir eine Handvoll Nüsse in den Mund. Ich bin am Zweifeln. Wie und wo erreiche ich junge Menschen? Liegt der Fokus noch zu sehr auf dem sportlichen Aspekt? Was kann ich anders machen? In meinem Kopf arbeitet es. Während ich durch die mit schweren Regentropfen gesprenkelte Scheibe nach draußen schaue und mir meine Beine mit Pferdesalbe einmassiere − ein Ritual, das ich mir bei Mehrtagesläufen zu eigen gemacht habe − stelle ich das komplette Projekt infrage. Was werde ich wohl schon allein verändern können? Wird 7 CONTINENTS überhaupt etwas bewirken? Ein Gefühl von Ohnmacht überfällt mich. Nur in dieser verregneten Pampa zu laufen − ohne Begegnungen, ohne Menschen, ohne ein Gespräch − kommt mir in diesem Augenblick so unglaublich sinnlos vor. Frustriert liege ich auf meiner Matratze und starre an die Decke. Ein Gefühl der Resignation macht sich in mir breit.
Bei einem langen Lauf wie von Berlin nach Istanbul treten zwangsläufig Probleme auf. Körperliche Schmerzen, mentale Tiefs, gesundheitliche Probleme. Das Knie zwickt, der Magen ist verstimmt, der Kopf müde, ein Gefühl von Heimweh überfällt mich. Solch ein Lauf ist ein Stück weit vergleichbar mit einer Achterbahnfahrt, bei der Hoch und Tiefs im Wechsel auftreten. Du wirst auf dieser Reise durchgeschüttelt und durchläufst unterschiedlichste Gefühlslagen.
Es hat viele Jahre gedauert, bis ich verstanden habe, dass ein Laufabenteuer ein Prozess ist. Dass sportliches Wachstum, mentale Stärke, geistige Reife und persönliche Weiterentwicklung mit Zeit und Geduld einhergehen. Dass es häufig zwei Schritte vorwärts, dann wieder drei Schritte zurückgeht, um auf die nächste Entwicklungsstufe zu gelangen. Dass Stehenbleiben nicht gleichzusetzen ist mit Rückschritt, sondern eine wichtige Komponente in der Entwicklung darstellt. Dass Hindernisse wie Gegenwind, Dauerregen, körperliche Schmerzen, mentale Tiefs ein fester Bestandteil von langen Läufen sind.
Je länger ich laufe, desto deutlicher erkenne ich: Das Meistern von Schwierigkeiten während eines langen Laufs erinnert mich stets daran, dass ich auch die Schwierigkeiten in meinem Leben meistern kann.
Dazu hat sicherlich auch meine Erfahrung beim Jungle Marathon in Brasilien beigetragen, der als einer der gefährlichsten Abenteuerläufe der Welt gilt. 222 Kilometer in sechs Etappen galt es bei diesem Rennen zurückzulegen. Durch den dichten Amazonas Regenwald. Hüfttiefe Sümpfe, handgroße Spinnen, fleischfressende Pflanzen und grüne Wände aus gewaltigen Bäumen bildeten eine unheimliche und gleichzeitig faszinierende Kulisse. Der Untergrund war schlammig, lehmig, und ein Labyrinth aus Baumwurzeln, Zweigen und Gestrüpp erwiesen sich als unangenehme Hindernisse. Dazu kamen immer wieder trübe Sümpfe und unangenehme Flussdurchquerungen. Jeder Läufer hatte seine komplette Ausrüstung inklusive Essensvorräte für sieben Tage auf dem Rücken.
Temperaturen von teilweise vierzig Grad im Schatten und eine Luftfeuchtigkeit von fast hundert Prozent gingen brutal an die Substanz und zogen mir den letzten Tropfen Flüssigkeit aus dem Körper. Nach der zweiten Etappe fühlte ich mich bereits so saft- und kraftlos wie eine ausgepresste Zitrone. Plötzlich fing sich alles um mich herum an zu drehen. Mir wurde es auf einmal schlecht und schwindelig. Umgehend begab ich mich zum Ärzteteam. Dort angekommen, brach ich zusammen, zitternd lag ich stundenlang im Zelt, unfähig mich aufzurichten, geschweige denn aufzustehen. Eine Infusion folgte der nächsten. Ich war fix und fertig mit der Welt. Für mich stand umgehend fest, dass ich das Rennen abbreche. Und keine fünf Minuten später war ich „out of the race“.
Antoine des Saint-Exupéry hat meine Erfahrung in Brasilien wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Bewahre mich vor dem naiven Glauben, es müsse im Leben alles glattgehen. Schenke mir die nüchterne Erkenntnis, dass Schwierigkeiten, Niederlagen, Misserfolge, Rückschläge eine selbstverständliche Zugabe zum Leben sind, durch die wir wachsen und reifen.“
Um nochmals das Bild des Dschungels zu bemühen. Das Profil dieses Laufs symbolisiert ein Stück weit unser Leben, denn unser Leben verläuft nicht auf einer ebenen, geraden, asphaltierten Strecke. In unserem Leben geht es immer wieder auf und ab, Hoch und Tiefs wechseln einander ab. Gestrüpp, Weggabelungen, Äste, Dornen versperren die Sicht. Viele Aspekte und Richtungen unserer Lebensreise sind nicht auf den ersten Blick erkennbar. Wir müssen immer wieder anhalten, uns neu orientieren, Kurskorrekturen vornehmen, den Weg anpassen, neue Entscheidungen treffen. Hürden und Hindernisse stellen uns dabei auf die Probe.
Hinfallen, wieder aufstehen und weiterlaufen. Das ist die Kurzformel, die theoretisch und kognitiv so einfach klingt, und doch tun wir uns im wirklichen Leben manchmal so ungemein schwer damit. Kinder sind uns Erwachsenen in diesem Punkt weit voraus und fungieren als unsere Lehrmeister. Meine Tochter hat mir dies vor Jahren, sie war ungefähr zehn Monate alt, sehr lebhaft vor Augen geführt. Als sie ihre ersten Gehversuche unternahm, war es für mich ungemein spannend zu beobachten, wie sie dabei vorging. Sie zog sich an einem Stuhl hoch, stand aufrecht, ging einen Schritt vorwärts, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden. Was machte sie dann? Sie gab nicht auf, sondern zog sich am selben Stuhl wieder hoch, etwas mühsam, stand dann wieder, machte erneut einen Schritt, dann einen zweiten, bevor sie ein paar Sekunden später mit ihrem Hintern wieder auf dem Boden landete. Marla hat mir mit ihren zehn Monaten gezeigt, worauf es in unserem Leben ankommt: Laufen. Hinfallen. Aufstehen. Krone richten. Weiterlaufen.
Das ist ein Kapitel meines neuen Buches „7 CONTINENTS – Mein Lauf um die Welt, zu den Menschen und zu mir selbst“, das am 25. November 2020 erscheint.