Manchmal sind es die kleinen, eher unspektakulären Geschichten, die eine große Wirkung entfalten und tiefere Erkenntnisse mit sich bringen. Augenblicke, die nicht unbedingt die Welt bedeuten, sondern meinen eigenen kleinen bescheidenen Horizont erweitern. Solch eine Geschichte erlebte ich im tschechischen Šafov. Es sollte der letzte Abend in Tschechien werden, am späten Nachmittag erreichen Achim und ich Šafov, eine 300-Seelen-Gemeinde nahe der Grenze zu Österreich. Wir sind beide hungrig. Nach 50 gelaufenen Kilometern knurrt mein Magen und lechzt nach einem Energieschub. Ob Döner, Pasta, Eintopf − egal, Hauptsache etwas im Magen. Die Stimmung ist etwas angespannt. Wenn ich Hunger habe, bin ich manchmal unausstehlich. Achim parkt seinen T4 Bulli und wir schlendern durch den Ort. Die Auswahl an passenden Lokalitäten ist sehr überschaubar. Es gibt genau ein Restaurant. Große, bunte Sonnenschirme zieren den mit grünen Hecken umrandeten Biergarten. Alles schaut sehr einfach und gleichzeitig gemütlich aus. Wir sind die einzigen Gäste. Auch die Essensauswahl macht es uns einfach: Es gibt nur Pizza. Pizza mit Salami oder Pizza mit Schinken. Wir bestellen beides. Dazu ein kühles Bier.
Die letzten Tage durch Tschechien hatten wir nur wenige Begegnungen mit Menschen. Liegt der Fokus des Projekts noch zu sehr auf dem sportlichen Aspekt? Achim und ich diskutieren darüber bereits seit Tagen. Zwei Wochen sind seit dem Start in Berlin vergangen, und außer einer Handvoll Stimmen haben wir noch nicht viel erreicht. Dazu trägt sicherlich auch die Tatsache bei, dass ich von Natur aus ein eher introvertierter und schüchterner Mensch bin. Auf fremde Menschen zuzugehen und sie anzusprechen, zählt sicherlich nicht zu meinen Stärken. Ich bewundere Menschen, die über diese Charaktereigenschaft verfügen.
Die Pizza kommt. Endlich. Achim und ich fallen über diese her und inhalieren sie förmlich. An einem der Nachbartische hat sich eine kleine Gruppe Männer niedergelassen. Handwerker, wie ich ihrer Kleidung nach urteile. Darunter ein Mann mit weißem Unterhemd und braun gebrannten, tätowierten Oberarmen, der eine Zigarette in der Hand hält. Unsere Blicke treffen sich für einen Moment. Ein kurzes Kopfnicken, mehr nicht. Die Männer reden lautstark, lachen, rauchen. Begleitet von dem einen oder anderen Bier. Der Wirt hat sich mittlerweile zu den Männern gesellt. Achim und ich sitzen nur zwei Tische entfernt, nur ein paar Meter Abstand, doch gefühlt trennen uns Welten. Die Männerrunde scheint uns nicht wahrzunehmen. Klar, wir sind Touristen, Fremde, geht es mir durch den Kopf. Wieder einmal, wie so oft in den letzten Tagen, ziehe ich mich innerlich in meine eigene Welt zurück. Meinen Kosmos reduziere ich auf Achim und unseren Dialog. Ich habe den Drang, aufzustehen, zum Nachbartisch zu gehen und mich zu den Männern zu setzen, doch mir fehlt der Mut. Ich bin auf dieser Reise noch nicht angekommen, innerlich aufgewühlt, unzufrieden mit mir.
Die Tür des Restaurants öffnet sich wieder, ein Junge erscheint. Er geht zum Tisch der Männer und setzt sich dazu. Kurze, dunkelblonde Haare, vielleicht acht, neun Jahre alt. Einen Moment später steht er wieder auf und läuft zwischen den Tischen umher. Fest in der Hand, sein Smartphone. Dabei schaut er immer wieder neugierig zu uns rüber. Er setzt sich wieder an den Tisch der Männer, und wieder streift seinen Blick den unseren. Ein schüchternes Lächeln, ganz kurz, was auch bei mir meine Mundwinkel nach oben gehen lässt. Und wieder äugt er mit wachen Augen zu uns rüber, und ganz langsam kommt er näher und näher zu unserem Tisch. Ein leises „Hallo“, ein paar wenige Worte auf Tschechisch. Was die Verständigung zwischen uns möglich macht: sein Handy. Von oben bis unten zerkratzt, die Marke nicht mehr erkennbar, dient es als Eisbrecher. Er zeigt uns Bilder. Die Fotos sind teilweise nur schwer zu erkennen, das Handy hatte sicherlich schon bessere Zeiten hinter sich. „Family?“, frage ich ihn, was er mit einem breiten Grinsen und eifrigen Nicken bejaht. Mit Händen und Füßen, so verläuft unsere Kommunikation. „What is your name?“ frage ich und zeige auf ihn. Er versteht zunächst nicht, doch dann macht es Klick. „Matti“, bringt er zaghaft hervor. Der Anfang ist gemacht, das Eis gebrochen. Ich erfahre, dass er sieben Jahre alt ist, in die zweite Klasse geht und Fußball über alles liebt. Dann zeigt Matti auf den Mann, der uns bewirtet hat und ruft: „Papa“. So lernen wir Roman, seinen Vater kennen. Während ich mit Roman ein paar Worte wechsle, führt uns Matti schon zum nächsten Gast: David, den Mann mit dem weißen Unterhemd und den braun gebrannten Oberarmen. 41 Jahre, gutes Englisch, arbeitet mit seiner Handwerker-Firma in Österreich. Spontan bietet er uns ein Zimmer zum Übernachten an. Dann steht wieder Matti neben uns. Doch statt seinem Smartphone hat er nun einen Ball in der Hand. Er muss nichts sagen, ich verstehe sofort, was er vorhat. Die nächste Stunde ist Fußballspielen angesagt. Wir kicken, rennen, lachen.
Als ich kurz vor Mitternacht im Gästebett des Gemeindehauses von Šafov liege, gehen mir tausend Fragen durch den Kopf. Wie wäre wohl der Abend verlaufen, wenn nicht Matti auf uns zugegangen wäre? Was wäre passiert, wenn nicht er den ersten Schritt gemacht und das Eis gebrochen hätte? Ich frage mich weiter: Wie viele Begegnungen hatte ich in den letzten Tagen und Wochen nicht wahrgenommen? Wie viele Chancen eines Gesprächs gingen mir durch die Lappen, weil ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen war? Wann habe ich das letzte Mal einen Fremden angesprochen? Was wäre, wenn ich mir zukünftig eine Scheibe von Mattis Neugierde abschneide? Mich mehr auf Menschen einlasse, aktiv den Kontakt zu Fremden suche?
Ein Spruch, der bei uns in der Küche hängt, kommt mir in den Sinn: „Sei der Fremde, der unerwartet freundlich ist.“ Danke, Matti. Genau das warst du für mich.
Das ist ein Kapitel meines Buches „7 CONTINENTS – Mein Lauf um die Welt, zu den Menschen und zu mir selbst.“