Im Oktober 2012 nehme ich bei einem anspruchsvollen und gleichzeitig beeindruckenden Wüstenrennen teil: dem Kalahari Augrabies Extreme Marathon in Südafrika. Dieser Lauf geht über insgesamt 250 Kilometer in sechs Etappen durch den südlichen Teil der Kalahari Wüste. 45 Läuferinnen und Läufer aus der ganzen Welt sind am Start. Unter ihnen ein junger Mann, der sich schon aufgrund seiner äußeren Erscheinung deutlich von den anderen Läufern unterscheidet: Kian aus Singapur. 34 Jahre alt, Vater von zwei Kindern und fast immer gut drauf. Als ich ihn vor dem Lauf in Johannesburg zum ersten Mal sehe, denke ich: Hmmm, was will denn der hier? Von seinem Äußeren passt er eher zum Sumo-Ringen als zum Laufen. Der bringt mindestens 100 Kilogramm auf die Waage. Wie will denn der mit so einer Statur diesen sehr anspruchsvollen Wüstenlauf bestehen? Das schafft er nie. Absolut ausgeschlossen. Als wir im Hotel unsere Rucksäcke für den Lauf packen, erzählt mir Kian stolz, dass er durch das Training für diesen Lauf bereits 20 Kilogramm abgenommen hätte. Von 125 auf 105 Kilogramm.
Mehr aus einem Verantwortungsgefühl heraus frage ich ihn daraufhin: „Wie viele Marathons bist du denn schon gelaufen?“ Nach meiner Einschätzung hätte jetzt so etwas kommen müssen wie: schon dutzende Marathons und auch schon den einen oder anderen Ultramarathon. Kian aber reagiert völlig verblüfft und antwortet mir: „Ich habe noch keinen einzigen Marathon gemacht. Mein längster Lauf ging über zehn Kilometer.“ Ich denke mir im Stillen: „Wow. Das ist ja mal eine gute Basis für solch einen extremen Wüstenlauf. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er aufgibt.“ Für mich ist das ein großes Dilemma, denn ich mochte ihn auf Anhieb und bin froh, dass er bei diesem Rennen dabei ist, aber ich habe – gelinde ausgedrückt – ernsthafte Bedenken. Ich bin wirklich drauf und dran, ihm zu sagen: „Junge, lass mal stecken, genieß einfach die Gegend, achte auf deine Gesundheit und fahr in einem der Begleitfahrzeuge des Organisationsteams mit.“
Wir unterhalten uns noch über Gott und die Welt. Zu Schulzeiten war Kian, der als Verfahrensingenieur in einem Kraftwerk in Singapur arbeitet, sportlich aktiv, engagierte sich bei den Pfadfindern und ging unterschiedlichen Outdooraktivitäten nach. Zum Laufen kam er während seiner Zeit beim Militär. „Da war ich Anfang 20 und habe mit Begeisterung begonnen zu laufen“, berichtet er. „Doch nach den 2,5 Jahren in der Army bin ich sportlich total inaktiv geworden. Bis zu meiner Teilnahme am Kalahari Extreme Marathon.“
Am nächsten Tag geht das Rennen los. Die erste Etappe über 30 Kilometer ist zum Einlaufen gedacht. 40 Grad Celsius, gleißende Sonne, sandige Strecke. Extrem kraftraubend. Und irgendwann, sehr viel später als alle anderen, erreicht auch Kian das erste Lager. Auf der zweiten Etappe über 38 Kilometer geben bereits fünf Läufer auf. Doch Kian hält irgendwie durch, kommt nach 11 Stunden im Lager an. Völlig erschöpft, fix und fertig mit der Welt. Auch die dritte Etappe hält er irgendwie durch. Am vierten Tag steht die Königsetappe an: 79 Kilometer am Stück. 79 Kilometer durch tiefen Sand, durch gnadenlose Hitze und später auch durch die Dunkelheit. Nach 19 Stunden ist der letzte Läufer im Camp angekommen, einige haben aufgegeben, nur einer fehlte überhaupt: Kian. Dann kommt die Nacht. Von Kian keine Spur. Am nächsten Tag geht wieder die Sonne auf. Von Kian immer noch keine Spur. Mich bewegten an diesem Tag zwei Dinge. Zum einen habe ich mir natürlich Sorgen um Kian gemacht. Zweitens, und das gebe ich gerne offen zu, fühlte ich mich auch bestätigt in meiner Einschätzung: Dieser Mann konnte diesen Wüstenlauf nicht bestehen. Völlig ausgeschlossen war das für mich.
Doch als niemand mehr wirklich an ihn glaubt, torkelt er heran und finisht auch die Königsetappe. Hundemüde, völlig dehydriert und geschwächt. 27 Stunden hat er für diesen Abschnitt gebraucht, sich mutterseelenallein durch die Nacht gekämpft und nicht aufgegeben. Alle sind fassungslos. Kian schafft auch noch die letzten zwei Etappen und beendet den gesamten Kalahari Augrabies Extreme Marathon trotz enormen Übergewichts und entgegen aller Vorhersagen. Unglaubliche 73 Stunden und 10 Minuten ist er gelaufen!
Selbstverständlich musste ich ihn, den vermeintlich Ahnungslosen, anschließend fragen, was sein Geheimnis war. Wie hatte er das geschafft? Und warum hatte er sich diese übermenschliche Anstrengung angetan? Was war seine Antwort?
Ebenso einfach wie auch sofort einleuchtend und schön: Ein bedeutendes soziales Projekt in seiner Heimat war der tiefere Hintergrund für seine Teilnahme. Dafür war er über seine Grenzen gegangen. Er war für Kinder in den Waisenhäusern Singapurs gelaufen. Sein Chef Meng, der in Südafrika auch dabei war, spendete für jeden gelaufenen Kilometer zehn Euro für diese Kinder. Immer wenn es ihm extrem schlecht gegangen war, hatte er an diese Kinder gedacht. Das imponierte mir sehr und ich kann mich heute noch lebhaft daran erinnern, wie seine Augen leuchteten, als er mir davon erzählte.
Wir können Kians Geschichte übertragen und diese Sinnfrage auch in anderen Bereichen stellen. Warum liest du diesen Blogbeitrag? Warum gehst du deinem aktuellen Beruf nach? Warum stehst du jeden Morgen auf? Vielleicht hast du dir diese Fragen schon länger nicht mehr gestellt.
Diese Geschichte erzähle ich auch bei meinem Online-Vortrag am 10. November 2020.
Bei diesem Online-Event geht es im Wesentlichen um die Frage des Warums. Was treibt uns an?
Sehen wir uns beim Online Event?